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“Ein Schmerz, den viele Syrer teilen”

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Aus dem Libanon können syrische Flüchtlinge unter gewissen Voraussetzungen deportiert werden. Der Syrer Qaes Said will nicht in seine unsichere Heimat zurückkehren. Diana Hodali hat ihn in Beirut getroffen.

Der alte, kräftige Baum am Seiteneingang der Amerikanischen Universität Beirut ist für viele Menschen ein Treffpunkt. Auch der palästinensische Syrer Qaes Said trifft dort Bekannte. Er ist zwar nicht so verwurzelt wie dieser Baum in Beirut, aber er sagt: “Ich lebe jetzt hier. Ich habe meinen Frieden mit der Tatsache geschlossen, dass ich nicht nach Syrien zurückkehren werde.”

Heute ist der 32-Jährige gekommen, um an einer Veranstaltung zum Thema “Syrische Rückkehrer” am Issam-Fares-Institut teilzunehmen. Das Thema ist im Libanon virulent. Erst kürzlich hat die libanesische Regierung ein Dekret erlassen: Syrer, die nach April 2019 ins Land gekommen sind, können deportiert werden – egal, welche Gefahr ihnen in ihrer Heimat drohen könnte. Außerdem bringen die libanesischen Sicherheitsbehörden einmal im Monat freiwillige Rückkehrer mit einem Bus zur syrischen Grenze.

“Der Druck im Libanon ist groß. Ich verurteile niemanden, wenn er zurückgehen will. Das sind persönliche Gründe”, sagt Qaes Said. Für ihn, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, wäre das keine Option. Vor fünf Jahren ist er legal in den Libanon eingereist, seine Mutter und seine Schwester konnte er ein Jahr später nachholen. Anfänglich haben sie zu dritt in zwei Zimmern im südlichen Beirut gelebt, doch seine Schwester ist mittlerweile in Kanada. Sie hat 2017 ein Stipendium für ein Studium bekommen. “Ich kümmere mich um meine Mutter”, erklärt ihr Bruder: “Sie ist traumatisiert von dem, was uns in Syrien passiert ist. Auch mir ging es die ersten Monate im Libanon nicht gut.”

Qaes Said will den Libanon nicht verlassen

Verschwunden in Syrien

Qaes Said wuchs mit seiner jüngeren Schwester und seinem jüngeren Bruder im palästinensischen Flüchtlingslager Jarmouk in der Nähe von Damaskus auf. Es ging ihnen gut, berichtet er. Obwohl der Krieg in weiten Teilen des Landes 2012 schon tobte, schaffte er seinen Wirtschafts-Abschluss an der Universität Damaskus. Doch kurz darauf belagerten verschiedene Kriegsparteien Jarmouk: “Die Menschen sind geflohen, als es die ersten Luftangriffe auf das Camp gab. Meine Familie und ich sind in ein Hotel in Damaskus gezogen.” Doch Said kehrte wenig später wieder zurück ins Camp. Er arbeitete damals schon nebenbei bei einer Jugendorganisation. Und er wollte den jungen und alten Zurückgebliebenen beistehen: “Ich werde nie das Bild der Frauen und Kinder vergessen, die uns angefleht haben, ihnen zu helfen – als seien wir ihre letzte Hoffnung.”

Doch 2013 passierte das, wovon Said schon oft gehört hatte, aber nie geglaubt hatte, es selbst zu erleben: “Der syrische Geheimdienst stürmte das Hotel, in dem meine Familie war. Er hat alle mitgenommen – meine Eltern und meine Geschwister.” Als er darüber spricht, senkt sich seine Stimme: “Meine Eltern und meine Schwester sind einige Wochen später frei gekommen. Von meinem Bruder fehlt seither jeder Spur.” Er schweigt und schaut auf den Boden. “Meine Mutter wollte, dass ich nach Beirut gehe. Sie hatte Angst um mich, denn durch meine Arbeit im Camp wusste keiner, ob ich der Nächste sein würde.” Noch bevor er im Frühjahr 2014 aufbrach, starb sein Vater. Qaes Said fiel es schwer, seine Mutter und seine Schwester zurückzulassen. Er konnte in den Libanon reisen, obwohl er wehrpflichtig war. Als Student durfte er seinen Dienst bei der Armee aufschieben.

Wehrpflicht oder Knast?

Doch mittlerweile sind fünf Jahre vergangen und das syrische Regime weiß nicht, dass er und seine Familie im Libanon sind. “Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich zurückginge, aber es könnte sein, dass ich entweder bei der Armee oder im Knast lande.”

Syriens Präsident Baschar al-Assad hat in letzter Zeit immer wieder betont, dass Flüchtlinge zurückkehren könnten, ohne Repressalien zu befürchten. Doch die Berichte verschiedener Organisationen, darunter Amnesty International und Sawa, eine syrische NGO in Beirut, sprechen eine andere Sprache: Einige Rückkehrer wurden inhaftiert, manche gefoltert. Auch Syriens gefürchteter Chef des Luftwaffen-Geheimdienstes, Jamil Hassan, spricht offen von Fahndungslisten, auf denen Oppositionelle und ihre Angehörigen stehen.

Qaes Said will das Risiko nicht in Kauf nehmen: “Es sind doch immer noch dieselben Leute an der Macht. In Syrien hat sich doch politisch nichts geändert. Warum soll das Vorgehen dann ein anderes sein.” Er ist sich sicher: “Assad will unpolitische Menschen in Syrien. Er will Syrer, die neutral sind.” Das sei er nicht mehr. “Als palästinensische Flüchtlinge haben meine Familie und ich uns früher aus politischen Diskussionen rausgehalten.”

Für ein freies Leben

Said will nicht mehr in politischer Unfreiheit leben. Denn eines ist klar: Solange Baschar al-Assad im Amt ist, wird es keine Sicherheit geben. Das Regime braucht Unsicherheit, damit sich keiner gegen die Machthaber auflehnt.

Der Syrer Quaes Said vermisst seine Heimat, will aber nicht zurück in die Unfreiheit

“Ich habe nicht viel vom Libanon erwartet. Und ich habe im Verhältnis zu anderen noch Glück gehabt”, sagt er. Damit meint er, dass er seit seiner Ankunft konstant Jobs bei Nichtregierungsorganisationen hat und damit seine Mutter und sich ernähren kann. “Ich kenne viele, die zurück wollen, weil sie hier nicht mehr alles bezahlen können und die Syrer für alle Probleme im Land verantwortlich gemacht werden.” Das Klima sei häufig angespannt. Durch die zusätzlichen Flüchtlinge ist zum einen der Druck auf dem informellen Arbeitsmarkt gestiegen, zum anderen ist der günstige Wohnraum knapp. Gut 950.000 Syrer sind nach Angaben des UNHCR im Libanon registriert, die Dunkelziffer soll viel höher sein.

Deportationen nach Syrien

Er wisse mittlerweile, wo er sich als Syrer zu erkennen geben kann und wo nicht, sagt Said: “Noch vor einiger Zeit hätte ich die Geschichte meiner Familie nicht so einfach erzählen können. Es wäre mir sehr schwer gefallen. Doch ich habe gelernt, damit zu leben.” Qaes Said wünscht sich ein Leben in Würde, sagt er. “Ich bin nicht der Einzige, dem so etwas widerfahren ist. Es ist ein Schmerz, den viele Syrer teilen.” Natürlich denke er häufig an seine Heimat Syrien: “Doch ich will an einem Ort leben, an dem ich reisen kann, mich bewegen kann, frei sein kann. Ich will nie wieder hören, dass jemand verschleppt oder gefoltert wurde.”

Er sorgt sich daher um diejenigen Syrer, die vom libanesischen Staat zwangsweise zurückgebracht werden. Acht libanesische Organisationen haben die Regierung bereits dazu aufgerufen, diese Praxis zu beenden. Denn Syrer hätten das Recht, im Libanon Asyl zu beantragen, heißt es im Appell der Beiruter Organisation “The Legal Agenda”. “Auch wenn es vorerst diejenigen betrifft, die seit April im Land sind, es ist nicht abwegig, dass der Libanon die Deportationen ausweiten könnten”, sagt Qaes Said besorgt: “Hier weiß man nie, was als nächstes kommt. Auch damit muss ich leben.”

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