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“Russlands Gewissen” Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa gestorben

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Ljudmila Alexejewa leitete die älteste russische Menschenrechtsorganisation und ist Trägerin des Sacharow-Preises des EU-Parlaments. Sie ist im Alter von 91 Jahren in Moskau gestorben.

Ljudmila Alexejewa, eine zierliche, grauhaarige Frau mit einer Pagenkopf-Frisur, umzingelt von russischen Spezialkräften, die sie von Menschenmassen und Kameras abschirmen. Das war bei einer Kundgebung der Bürgerbewegung Strategie 31. Diese organisierte zwischen 2009 und 2011 friedliche Straßenproteste zur Erinnerung an den Paragrafen 31 der russischen Verfassung, der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit garantiert. Doch nicht immer wurde Alexejewa so geschützt. Am 31. Dezember 2010 erschien die damals 83-Jährige zu einer Demonstration im Zentrum Moskaus in einem Kostüm des Schneemädchens Snegurotschka, einer russischen Märchengestalt. Sie wurde festgenommen und in einen Polizeibus gezerrt.

In Gesprächen mit der DW wurde sie oft gefragt, ob sie wegen der Einschränkung der Bürgerrechte in Russland enttäuscht sei. Dazu sagte sie: “So schlimm es auch um die Menschenrechte steht, so sieht es doch heute besser aus als in der Sowjetunion, als wir gar keine Rechte hatten.” Alexejewa war glücklich darüber, dass sie erleben durfte, wie Russland Anfang der 1990er Jahre eine demokratische Verfassung und solide Gesetzesgrundlage bekam, die es erlaubt, die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern. Über die heutigen Rückschläge sagte sie: “Wir haben uns diese Freiheit nicht erkämpft. Aber jetzt werden wir sie uns langsam und schmerzvoll erkämpfen müssen.” Gleichzeitig lehnte sie die Losung “Russland ohne Putin” ab, aus Respekt gegenüber denjenigen, die den jetzigen russischen Präsidenten gewählt haben.

Zu Dankbarkeit verpflichtet

Russische Medien wählten Alexejewa zu einer der einflussreichsten Personen der Landes

Respekt ihr gegenüber fehlte aber offenbar vielen ihrer Gegner. Im russischen Fernsehen wurde die von Alexejewa geleitete Moskauer Helsinki-Gruppe, die älteste Menschenrechtsorganisation in Russland, aber auch sie persönlich immer wieder der Verbindungen zu ausländischen Geheimdiensten bezichtigt. So wurde in einer TV-Sendung eine Kopie ihres US-Passes gezeigt, als Beweis für ihre angebliche Illoyalität gegenüber Russland.

Im Jahr 1982 erwarb Alexejewa tatsächlich die US-Staatsbürgerschaft. Sie war 1977 in die USA emigriert, weil ihr in der Sowjetunion die Verhaftung drohte. Dort hatte sie politische Gefangene unterstützt, sie in Straflagern und Haftanstalten besucht, aber auch Literatur verbreitet, die von den sowjetischen Behörden verboten war. 1976 trat sie der Moskauer Helsinki-Gruppe bei, die Informationen über Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion sammelte, beispielsweise über Zwangseinweisungen von Regimegegnern in die Psychiatrie. Ein Jahr zuvor hatte Moskau die Schlussakte von Helsinki der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), dem Vorläufer der heutigen OSZE, unterzeichnet. Damit verpflichtete sich die Sowjetunion, die Menschenrechte zu achten. Daher auch der Name der Gruppe. Sie bestand sechs Jahre. In dieser Zeit wurden acht Mitglieder zu Haftstrafen oder Verbannung verurteilt, sechs – darunter Ljudmila Alexejewa – mussten emigrieren.

In den USA konnte Alexejewa frei leben und arbeiten. Dort veröffentlichte die Historikerin ein Buch über die Dissidenten-Bewegung in der Sowjetunion. Aus Dankbarkeit für diese Freiheit wollte sie ihre US-Staatsbürgerschaft nie aufgeben, trotz aller Vorwürfe gegen sie aufgrund ihres US-Passes. Dankbar war sie auch dem ersten und letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow dafür, dass während seiner Amtszeit und mit seiner Hilfe das kommunistische Regime zusammengebrochen war. 1993 kehrte Alexejewa nach Russland zurück und erhielt die russische Staatsbürgerschaft.

Die Dinge beim Namen nennen

Sie protestierte gegen Putin. Trotzdem zeichnete er Alexejewa 2017 aus

Im Mai 1996 übernahm Alexejewa die Leitung der Moskauer Helsinki-Gruppe – bis zu ihrem Tod. Im postsowjetischen Russland befasste sie sich anfangs mit der Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit des Landes. Aber der erste Tschetschenien-Krieg, der 1994 unter dem Präsidenten Boris Jelzin ausbrach, wurde für sie und andere Menschenrechtler zu einer Bewährungsprobe. Erbittert kritisierte Alexejewa den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt seitens der russischen Armee, die Entsendung Wehrpflichtiger und die von den Konfliktparteien begangenen Kriegsverbrechen. Als Jelzin im April 2007 starb, sagte  Alexejewa der DW im Zusammenhang mit den beiden Tschetschenien-Kriegen: “Jelzin war eine große Persönlichkeit und groß waren auch seine Fehler.”

Zu Zeiten, als Nichtregierungsorganisationen in Russland noch Finanzmittel aus dem Ausland erhalten konnten, ohne als “ausländischer Agent” gebrandmarkt zu werden, setzte die Moskauer Helsinki-Gruppe viele Projekte um: Beobachtung von Wahlen, Bekämpfung von Polizeiwillkür und Verteidigung der Rechte von Migranten. Doch in den letzten Jahren mussten viele Projekte eingestellt werden. Ohne zu beleidigen, nannte Alexejewa die Dinge beim Namen. Sie bezeichnete Verbrechen als Verbrechen und Niedertracht als Niedertracht. “Ich sage was ich für notwendig halte”, betonte sie in einem ihrer letzten Interviews für die DW. Schade, dass diese Stimme, die Stimme des Gewissens Russlands, nun verstummt ist.

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