Wirtschaft

Viele Unternehmen sind im Lernstress

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In sämtlichen Branchen müssen Mitarbeiter im Zuge der Digitalisierung weitergebildet werden. Doch oft hapert es an Wissen, Zeit und Geld.

Andere Zeiten. Im Zuge der Digitalisierung werkeln selbst Handwerker immer weniger mit ihren Händen.

Die Therapeuten betreten Pflegeheime nur noch mit Smartphone und Tablet. Was dem Patienten fehlt, welche Übungen sie gegen die Rückenschmerzen gemacht haben – all das notieren sie digital und speichern es in der Cloud ab. Job erledigt. So sieht der Alltag der Berliner Physiopark- Gruppe inzwischen aus. Typisch ist das nicht. „Die meisten Praxen in unserer Branche sind null digital“, sagt Geschäftsführer Arturo Fichter-Seefeld. „Da werden selbst Termine noch mit Bleistift in den Tischkalender geschrieben.“

Um neue Apps zu verstehen und sicher mit den sensiblen Daten umzugehen, werden seine Mitarbeiter vier, fünf Mal im Jahr geschult. Sie hätten doch gar keine andere Wahl. Nach einer Studie des Weltwirtschaftsforums verfügt nicht einmal jeder zweite Deutsche über das Wissen, das die Jobs der Zukunft erfordern. Berufe werden sich enorm verändern, verschwinden. Die Menschen werden nicht mehr jeden Tag ein und dasselbe tun, sondern ihr Leben lang Neues dazulernen müssen. Doch obwohl das den meisten Geschäftsführern und Personalverantwortlichen bewusst ist, tut sich in den Betrieben wenig.

Eine knappe Mehrheit der Unternehmen will in diesem Jahr mehr Geld für die Aus- und Weiterbildung ausgeben, wie eine repräsentative Umfrage im Auftrag des TÜV-Verbands und des Digitalverbands Bitkom ergeben hat. Sie stellen ihren Beschäftigten im Durchschnitt aber nur 709 Euro und zwei, drei Tage im Jahr zur Verfügung. Zum Vergleich: Ein Seminartag bei einem externen Anbieter koste 450 bis 500 Euro. „In Zeiten, in denen sich Technologien wie künstliche Intelligenz, Virtual Reality, 3D-Druck oder Data Analytics extrem dynamisch entwickeln, reichen die Weiterbildungsausgaben der Wirtschaft nicht aus“, kritisiert Joachim Bühler, Geschäftsführer des TÜV-Verbands.

Für die einen sind es Drohnen, für die anderen Word

Dachdecker werden irgendwann mit Drohnen arbeiten, Pflegekräfte mit Robotern. Das hat sogar die Bundesregierung erkannt und investiert mit einem neuen Gesetz Milliarden, damit die Menschen hierzulande den Wandel meistern (siehe Kasten). Arturo Fichter-Seefeld hat davon noch nichts gehört. Nach dem Durchlesen meint er: „Man muss ja ein Jurist sein, um das zu verstehen.“ So antworten viele Berliner Betriebe auf Anfrage.


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Bei Siemens haben die Mitarbeiter ein breites Weiterbildungsangebot, beispielsweise zu Virtual Reality in der Produktion und Wartung. Gegenbauer lässt in der Belegschaft derzeit die App „Digitaler Führerschein“ testen. Spielerisch lernen Mitarbeiter in kleinen Einheiten, was eine Cloud und die DSGVO sind. Den ersten Reinigungskräften wird beigebracht, wie sie Putzroboter bedienen. Zalando hat eine „Tech Academy“, mit Trainings zu Programmiersprachen und Maschinellem Lernen. Das ist die eine Wirklichkeit.

In vielen kleinen und mittelgroßen Betrieben bedeutet Digitalisierung: erst mal ein papierloses Büro schaffen. Bernd Bergmann führt einen Betrieb im Bereich Sanitär- und Heizungsinstallation mit 180 Beschäftigten in Reinickendorf. Exemplarisch für viele Handwerksunternehmen sollen sich die Mitarbeiter hier daran gewöhnen, ihre geleisteten Stunden nicht mehr handschriftlich auf einen Zettel zu schreiben, sondern am Computer einzutippen. Gleiches gelte für Arbeitsberichte. „Ein Problem ist der unterschiedliche Kenntnisstand im Umgang mit dem Computer“, sagt Benjamin Bergmann, Neffe und Partner des Chefs. „Manche haben gar keinen zu Hause.“ Da müssten simple Befehle wie speichern und kopieren in einem Word-Dokument in internen Schulungen erlernt werden. Das Gesetz betrachtet er ebenfalls skeptisch. „Wir können niemanden so einfach vier Wochen entbehren.“ Das ist eine Voraussetzung, um Fördergelder zu bekommen.

Die Mehrheit unterschätzt Folgen der Digitalisierung

Die zeitliche Vorgabe bemängelt auch Dieter Dohmen, Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie. Momentan käme das Handwerk kaum mit den Aufträgen hinterher. Wer sollte da – vor allem in kleinen Teams – lange fehlen können? Außerdem hält Dohmen die Arbeitsagentur für ungeeignet. Die Angebote würden schon jetzt oft nicht passen. „Dann wird es wieder nur eine Beschäftigungstherapie.“

Zu wenig Zeit und Geld für Qualifizierung ist vielerorts ein Problem. Das Mittelstand-4.0-Kompetenzzentrum Berlin möchte kleine und mittelgroße Unternehmen deswegen beraten und mit kostenlosen Workshops unterstützen. Der Informationsbedarf sei „enorm hoch“. Bei einer Teilnehmeranzahl von 25 Personen sei „die Warteliste oft dreimal so lang“, sagt Referent Tobias Thimm. Die Betriebe würden wissen wollen, wie sie ihr Marketing und ihr Geschäftsmodell digitalisieren, ihre Buchhaltung, Auftragsabwicklung, Personalarbeit und Kommunikation im Team. Kurzum alles – und das auf eine datengeschützte, sichere Weise.

Ein Brandenburger Familienbetrieb, der Säfte und Marmeladen aus Sanddorn produziert, hat die Warenbestände zum Beispiel lange per Sichtkontrolle und bei der Inventur ermittelt. Inzwischen wird der Bestand im Lager mittels Scan-Geräten und digitaler Waagen in Echtzeit erfasst. Gerade ältere Mitarbeiter, die Jahrzehnte analog gearbeitet haben, müssen bei solchen Umstrukturierungen mitgenommen und geschult werden.

Einfach ist das nicht. Zumal nur rund jeder Fünfte von 2000 Frauen und Männern meint, dass sie ihre Fähigkeiten in den kommenden Jahren erweitern müssen. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie der Unternehmensberatung Deloitte. Die Mehrheit glaubt: alle Kompetenzen, die ich brauche, habe ich schon.

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