Wirtschaft

Was die Deutschen sagen – und was sie wirklich kaufen

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Handel und Politik setzen auf das Tierwohl. Doch die Realität sieht anders aus: Im Einkaufswagen landet vor allem billige Ware aus Massentierhaltung.

Beengte Verhältnisse: In Intensivanlagen haben die Schweine keinen Platz.

Julia Klöckner hat ehrgeizige Ziele. An diesem Mittwoch will die Bundesagrarministerin offiziell ihr staatliches Tierwohllabel vorstellen. Klar ist schon jetzt: Das staatliche Siegel, das zunächst für Schweine gelten soll, soll mehr sein als eine reine Haltungskennzeichnung. Es soll den Weg des Tiers von der Geburt bis zum Schlachthof begleiten. Und nur wenn alle Stationen dem Schwein bessere Möglichkeiten bieten als es die Gesetze vorschreiben, soll am Ende seines Lebens auf der Fleischpackung das staatliche Gütesiegel für mehr Tierwohl prangen.

Fleisch mit dem Siegel wird teurer

Klar ist aber auch: Der bessere Schutz hat seinen Preis. Schweineschnitzel und Würste mit dem Staatslabel werden teurer sein als konventionelle Massenware. Um fünf bis 15 Euro dürften sich die Kosten pro Mastschwein erhöhen, schätzt man, je nachdem, ob sich der Landwirt mit der Einstiegsstufe eins zufrieden gibt oder seinem Tier die Premiumstufe drei gönnt. Wie viel davon beim Kunden landen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie stark der Staat die Bauern beim Umbau ihrer Ställe unterstützen wird. Teurer wird es aber auf jeden Fall. Wie gut, dass viele Kunden bereit sind, mehr Geld für mehr Tierwohl auszugeben. So behaupten sie es zumindest in Befragungen.

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Vielleicht wird durch solche Informationen klarer, in welcher Zwickmühle viele Landwirte stecken. Sie werden permanent zu besseren (aber damit eben auch teureren) Haltungsformen aufgefordert, müssen aber weiterhin mit Geiz-ist-geil-Kaufverhalten kalkulieren.

…schreibt NutzerIn hatchet

Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Das zeigt eine neue Untersuchung der Hochschule Osnabrück, und das belegen nach Tagesspiegel-Informationen auch die Erfahrungen, die der Handel bislang mit seinen Haltungskennzeichnungen gemacht hat. Rewe, die Rewe-Tochter Penny, Lidl, Kaufland, Aldi und Netto verkaufen seit dem vergangenen Jahr Fleisch, bei dem Kunden jeweils in einem vierstufigen System nachvollziehen können, wie die Tiere gehalten wurden: von einfacher Stallhaltung in Stufe eins über „Stallhaltung plus“ der Stufe zwei (zehn Prozent mehr Platz im Stall sowie Beschäftigungsmaterial), Stufe drei mit noch mehr Platz und Kontakt zu Frischluft bis hin zur Premiumstufe vier, unter die auch Bio fällt.

Der Großteil kommt aus Stallhaltung

Die Realität in deutschen Supermärkten sieht ernüchternd aus. „Der größte Teil des Fleischs entfällt bei Penny und Rewe auf Stufe eins“, sagt Rewe-Sprecherin Christine Schütz. „Das wird am meisten gekauft“. Auch Kaufland räumt ein, „aktuell überwiegt noch die Stufe eins“. Bei Aldi Nord machen die Haltungsstufen eins und zwei einen Großteil des Angebots von frischem Fleisch aus. Bei Lidl kommt – mit regionalen und saisonalen Schwankungen – 50 Prozent des Frischfleischs aus Stallhaltung der Stufe eins.
Experten wundert das nicht. „Das mit Abstand meiste Schweinefleisch stammt aus einer Haltung, die Stufe eins oder Stufe zwei entspricht“, sagt Patrick Klein von der Initiative Tierwohl. „Fleisch aus den Stufen drei und vier hat nur sehr geringe Marktanteile“. Das liegt auch am geringen Angebot, so Klein. So habe Bio-Schweinefleisch in Deutschland nur einen Marktanteil von zwei Prozent und sei sehr teuer. Die Initiative Tierwohl versucht seit Jahren, gemeinsam mit Tierhaltern und dem Handel die Haltungsbedingungen von Schweinen und Geflügel zu verbessern. Die Organisation betreut auch maßgeblich die für April vereinbarte Einführung eines einheitlichen vierstufigen Haltungslabels für den gesamten Einzelhandel.


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Bundeslandwirtschaftsministern Julia Klöckner plant ein staatliches Tierwohllabel, das deutlich über die gesetzlichen Vorgaben…

Glaubt man Ulrich Enneking von der Hochschule Osnabrück, ist aber nicht nur das fehlende Angebot an Premiumfleisch das Problem, sondern auch der Geiz der Verbraucher. Der Professor hat den Praxistest gemacht. In 18 Edeka- und NP Discount-Märkten hatte der Wissenschaftler testweise ein neues Produkt mit Tierwohlsiegel einführen lassen. Preislich lag das Fleisch zwischen der Billigware „Gut und Günstig“ und der Bio-Premiummarke „Bio Janssen“. Nach 18.000 Verkäufen von Bratwürsten, Minutensteaks und Gulasch ist Enneking zu einem enttäuschenden Ergebnis gekommen: Nur 16 Prozent der Kunden waren bereit, einen Tierwohlartikel statt konventionell erzeugter Ware zu kaufen. Zudem hätten die Kunden lediglich Preisaufschläge von 30 Cent für die Wohlfühlware akzeptiert. „Die Ergebnisse haben uns überrascht“, gibt der Professor zu, „die grundsätzliche Bereitschaft im Test mehr Geld für solches Fleisch auszugeben, ist nur bedingt ausgeprägt“

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Handel will das Niveau anheben

Dennoch will der Handel den Glauben an die Moral der Kunden nicht aufgeben. Kaufland will langfristig die Stufe zwei als Mindeststandard etablieren. Die Edeka-Discountkette Netto hat sich verpflichtet, ab Anfang dieses Jahres rund die Hälfte und langfristig ihr gesamtes Frischfleischsortiment mindestens auf Stufe zwei umzustellen. Auch der Sortimentsanteil der Stufen drei und vier soll ständig ausgebaut werden, teilte Netto-Sprecherin Christina Stylianou auf Tagesspiegel-Anfrage mit. Die Mutter Edeka, die größte deutsche Supermarktkette, hat dagegen bislang kein entsprechend gekennzeichnetes Fleisch im Angebot und ist dafür in der Vergangenheit mehrfach von Greenpeace attackiert worden. An der neuen einheitlichen Handelskennzeichnung wird sich der Supermarktriese jedoch beteiligen. Ab April werden Kunden auch auf verpacktem Fleisch der Edeka-Eigenmarken die Haltungskennzeichnung finden.

Ernährungsreport: 86 Prozent der Bürger sind für artgerechte Tierhaltung

Auch Lidl zeigt sich optimistisch. Das Thema Tierhaltung habe an Interesse gewonnen, heißt es beim Discounter. Die Kunden würden mehr auf die Kennzeichnung achten sowie verstärkt Fleisch aus einer höheren Stufe einfordern. Das deckt sich mit dem von Klöckner unlängst vorgelegten Ernährungsreport: Danach interessieren sich 86 Prozent der Bundesbürger für artgerechte Tierhaltung, 81 Prozent wünschen sich ein staatliches Tierwohlkennzeichen. Doch wie belastbar solche Wünsche sind, weiß man auch bei Lidl nicht: „Wesentliche Trends im Kaufverhalten lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zuverlässig ableiten“, heißt es.

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